Nachdem wir in der Vorbereitungsphase ein Instrument geschaffen und es über die Schwelle des Stimmeinsatzes getragen haben, wartet die Herausforderung, es während des Singens einer Phrase zu erhalten. Dabei begegnen uns drei Faktoren, die unser Instrument aus den Angeln heben können. Diese sind unterschiedliche Vokale, Tonhöhen und Konsonanten.
Der Grund für die recht triviale Überlegung ist die These, dass Stimmbilden heißt, unsere sprachlichen Artikulationsgewohnheiten zu erweitern und sängerische zu entwickeln.
Unsere tief verankerten sprachlichen Gewohnheiten sind eine der großen Herausforderungen beim Singenlernen. Sie machen sich besonders beim Wechseln von Vokalen, Tonhöhen und Konsonanten bemerkbar, und wir sind gefährdet, unser Instrument zu verlieren.
Was heißt das Instrument verlieren klanglich?
Es ist hier immer wieder die Rede davon, das Instrument zu erhalten, also es nicht aufzugeben oder zu verlieren. Die Frage ist allerdings: Was heißt es klanglich das Instrument zu verlieren? Auf jeden Fall hören wir es. Es funktioniert schließlich auch mit geschlossenen Augen.
Wir beantworten die Frage in der Regel recht selbstverständlich, und zwar größtenteils intuitiv. Die körperliche Erfahrung mit unserer eigenen Stimme dient uns dabei als Korrektiv.
Welche Unterschiede wir nun genau hören und auch sehen, ist nicht ganz so leicht in Worte zu fassen. Man könnte es vielleicht so ausdrücken:
Verlieren wir unser Instrument, führen uns wieder mehr unsere sprachlichen Vokalgewohnheiten. Das Kiefer übernimmt eine stärkere Führungsrolle und weniger die Atmung, die uns offen hält. Dabei erhöht sich die Spannung im System, besonders in einer höheren Lage.
Es lässt sich dabei oft eine zusammensinkende Tendenz im Brustkorb wahrnehmen und die Stimme wird enger. Manchmal, besonders für Sänger:innen im Brustregister in höherer Lage, kann das ein recht ausgeprägtes komprimierendes Gefühl sein. Das Offenbleiben, das wir suchen, auch in der hohen Lage, geht verloren.
Der Klang der Stimme klingt etwas körperloser, vielleicht etwas hauchig und in unserem Timbre machen sich die größeren Unterschiede der Vokale stärker bemerkbar. Das Timbre wird uneinheitlicher oder man könnte auch sagen, der Vokalausgleich geht verloren. Insgesamt klingt es weniger sängerisch.
All diese Veränderungen können recht deutlich oder nur in kleinen Nuancen auftreten, die nur von geschulten Ohren hörbar sind.
Überlegungen zur Übungsgestaltung
Übungskonzeption
Warum eigentlich Übungen? Wieso üben wir nicht einfach mit der Literatur, auf die es ohnehin ankommt? Mit Übungen können wir eine Laborsituation schaffen, die die Komplexität und die Anforderungen der Literatur reduziert.
Nun zurück zu den drei Aspekten, die uns fordern: Veränderung von Tonhöhen, Vokalen und dem häufig verengenden Charakter von Konsonanten.
Schematisiert könnte die Logik Übungen zu entwickeln so aussehen.
Wir üben nur Veränderungen von Tonhöhen, ohne Vokale zu wechseln und Konsonanten zu verwenden.
Wir üben den Wechsel von Vokalen, ohne die Tonhöhe zu verändern. Auch Konsonanten lassen wir hierbei weg.
Wir kombinieren den Wechsel von Tonhöhen und Vokalen, ohne Konsonanten.
Wir kombinieren alle drei Aspekte, Veränderungen von Vokalen, Tonhöhen und die Verwendung von Konsonanten.
Dabei können wir über die Gestaltung der Melodie den Komplexitätsgrad steuern. Von simplen Wechselnoten bis hin zu längeren Tonfolgen mit großen Rahmenintervallen.
Das sind sehr grundsätzliche Gedanken, die eine Struktur für unser Denken über Übungen bereitstellen können. Für mich ist das immer hilfreich.
Töne und Vokale verbinden
Die Gefahr, unser Instrument durch sprachliche Gewohnheiten zu verlieren, lauert besonders beim Wechseln von Vokalen und Tonhöhen, also eigentlich genau zwischen Ausgangsvokal und Zielvokal. Das Gleiche gilt für die Tonhöhe.
Tonhöhen- und Vokalwechsel stufenlos zu gestalten, ist eine hilfreiche Methode, diese Zwischenräume wahrzunehmen und dabei das Instrument weiter zu erhalten. Beispielsweise passieren wir vom Vokal /i/ zu /a/ einige Vokale und Vokalfarben, die wir bewusst wahrnehmen sollten. Dabei sollten Stimmsitz, hohe und tiefe Verankerung des Instruments nicht verloren gehen.

Tonfolgen
Über die Wahl von absteigenden oder aufsteigenden Tonfolgen können wir unterschiedliche Anreize an unser System Stimme stellen.
absteigende Tonfolgen
Tonfolgen von oben nach unten stellen an uns den Anreiz, uns für einen hohen Ton in der Tonfolge einzustellen. Die Tonhöhe kann hier schon ihre Wirkung auf unser Instrument bzw. unsere Vokale entfalten. Die Einstellung der Stimme ist tendenziell „schlanker“, wenn wir unseren Tonus für einen höheren Ton gut unter Kontrolle halten können. Im Kopfregister ist das einfacher als im Brustregister.
Diese Grundeinstellung hat auch auf den Rest der Tonfolge Auswirkungen, da das System sozusagen auf eine höhere Lage eingerichtet wird. Tiefere Töne werden davon auch beeinflusst. Je nachdem, wie wir das zulassen, abhängig von Klangabsicht und Tonfolge. Geht es danach wieder nach oben, ist es sinnvoll, das zuzulassen.
aufsteigende Tonfolgen
Mit tieferen Tönen anzufangen ist im Brustregister definitiv leichter. Für klassische Frauenstimmen ist das nicht unbedingt der Fall.
Bei Tonfolgen von unten nach oben können wir üben, das Gewicht der tiefen Lage nicht oder nur eingeschränkt nach oben mitzunehmen. Anders gesagt, sind wir gefordert zu lernen, unsere Stimme nach oben zu verschlanken, um nicht in einen zu hohen Tonus, zu hohen subglottischen Druck oder Pressen zu gelangen. Besonders trifft das auf Sänger:innen im Brustregister zu. Bei Sängerinnen im Kopfregister ist die Dynamik etwas anders, abhängig von der genauen Lage.
Gut zu erleben oder zu erarbeiten ist bei Tonfolgen von unten ebenso, wie sich die zunehmende Tonhöhe auf unser System, unsere Vokalfarben auswirkt. Unsere Aufgabe ist es, sich von sprachlichen Vokalmustern zu emanzipieren. Die Ausprägung der Dynamik hängt dabei natürlich von der stilistischen Heimat und Absicht ab.
Grundsätzlich gibt es eine gängige Ansicht, die lautet:
Frauenstimmen entwickelt man von oben nach unten und Männerstimmen von unten nach oben.
Ich verstehe das so: Sänger:innen, die sich im Kopfregister bewegen, werden von oben nach unten und Stimmen, die sich vor allem im Brustregister bewegen, von unten nach oben entwickelt.
Ausgehend davon, welche Lage für das jeweilige Timbre klangprägend ist, ist das auch nachvollziehbar. Im Endeffekt müssen aber selbstverständlich beide Varianten gut funktionieren.
Was Vokale von einander lernen können
Meine These ist, dass unsere Vokalvorstellung von der Sprache geprägt ist. Dafür sind sehr präzise Vokalfarben nötig. Kleine Abweichungen führen dazu, dass wir uns als Native Speaker, oder eben nicht, unterscheiden lassen. Auch Dialekte brauchen diese feinen Unterschiede.
Sprachliche Vokale sind sehr unterschiedlich und das lässt sich auch spürbar verbildlichen. Wenn wir Vokale stumm einstellen, werden sie von sehr vielen etwa so wahrgenommen wie in der folgenden Grafik skizziert.
Die schon öfter erwähnte Definition von Singen geht davon aus, dass wir beim Singen das Instrument über eine exakte sprachliche Vokalfarbe priorisieren.
Das lässt sich auf 2 Arten denken:
Das Instrument „verformt“ die sprachlichen Vokale.
Das Instrument, das wir in der Vorbereitungsphase eratmen, mit dem großen Einfluss von Tonhöhe, sorgt schon dafür, dass wir die sprachlichen Vokale verlassen. Wir maniupulieren dabei auch unseren Vokaltrakt. Weil Vokale nur das klangliche Abbild der Raumform sind werden sie dabei auch verändert.
Stimmbildung heißt u.a. genau das zulassen zu lernen. Insofern kommt auch immer der Hinweis, dass uns unsere tiefsitzenden sprachlichen Vokalfarben beim Singenlernen herausfordern.Alle Vokale brauchen 3 Dinge:
- genügend Öffnung
- hoher Sitz (Stimmsitz und ev. hohe Verankerung) und
- Länge (tiefe Verankerung)
Nun haben verschiedene Sprachvokale unterschiedliche Stärken und Schwächen, wenn wir an diese drei Aspekte denken.
/i/ und /e/ verfügen von Natur aus über einen guten Stimmsitz und lassen sich hoch im Kopf verorten.
/a/ wiederum besitzt naturgemäß eine gute Öffnung und Freiheit des Kiefers.
/u/ hat Länge und lässt sich gut mit der Atmung in die Tiefe in Einklang bringen. Die Einstellung des /u/ senkt außerdem den Kehlkopf beim Einatmen gut wahrnehmbar.
Umgekehrt haben alle Vokale auch Schwächen. /u/ hat wenig Stimmsitz, /i/ und /e/ sind breit und besitzen wenig Länge, usw. /a/ ist weder sehr lang noch hat es einen besonders guten Stimmsitz.
Wir könnten daraus nun schließen, dass alle Vokale, um gut singbar zu werden, sich die Stärken von einander aneignen müssen. Beispielsweise brauchen /i/ und /e/ genügend Öffnung und Freiheit im Kiefer des /a/ um auch in hohen Lagen gut zu funktionieren. /u/ und /o/ aber auch /a/ müssen sich den hohen Stimmsitz des /i/ und /e/ aneignen. /i/ und /e/ müssen auch von der Länge und Schlankheit des /u/ lernen.
Wir verwenden in der Gesangspädagogik gerne den Begriff Vokalausgleich. Ich denke, er lässt sich unter anderem so definieren.
Für die Übungskonzeption könnte das heißen, wir kombinieren Vokale um bestimmte Absichten zu verfolgen. Etwa kann ein Präfix des /i/ oder /j/ für andere Vokale für mehr Stimmsitz sorgen (z.B.: i-u). /u/ wiederum kann helfen mehr Verbindung in den Körper herzustellen. /a/ kann wiederum für ein freieres Kiefer sorgen.
Genauso können sich dabei auch die Schwächen der Vokale bemerkbar machen. Darauf sollten wir ein Auge haben und die Schwächen nicht wirksam werden lassen.
Konsonanten - unsere Feinde, Freunde oder beides?
Viele Konsonanten entstehen durch eine Verengung im Vokaltrakt. Dabei ein offenes System zu halten, das für die fließende Veränderung zwischen den Vokalen geeignet ist, kann uns durchaus Mühe bereiten. Oft findet man vor schwierigen Tönen, meist in hoher Lage, einen Konsonant, der uns die Weite und Öffnung im System kurz nimmt, wodurch der Vokal und Ton danach misslingen kann. Wir müssen also lernen, zwar Konsonanten zu artikulieren, aber die Offenheit und generell das Instrument dabei nicht aufzugeben.
Viele Konsonanten bereiten andererseits dem Luftstrom Widerstand und helfen, mehr Energie in die Atembewegung zu bringen. Beispielsweise muss die Atmung bei Plosiven wie /t/ oder /p/ einen gewissen Atemdruck aufbauen, der dann durch den Konsonanten gelöst wird.
Wenn wir uns beiden Aspekten bewusst sind, können wir Konsonanten bei Übungen gezielt einsetzen oder auslassen, je nachdem, was wir erreichen wollen.
Zusammenfassung Stimmbildungsmodell
Das in dieser Serie skizzierte Stimmbildungsmodell ist in drei Phasen gedacht: die Vorbereitungsphase, den Stimmeinsatz und die Phonation. In der Vorbereitungsphase bauen wir unser Instrument. Die Atmung ist der Treiber der Bewegung. Die Tonhöhe ist dabei ein potenter Katalysator für die Einstellungen im System.
Der Stimmeinsatz ist die Schwelle, über die wir versuchen, das Instrument behutsam zu tragen, ohne von unseren Gewohnheiten überwältigt zu werden.
Die Phase der Phonation ist geprägt von vielen Veränderungen von Vokalen, Tonhöhen und Konsonanten, die uns herausfordern, unser Instrument zu erhalten.
Dieses Modell soll helfen, unser Denken zu ordnen und zu strukturieren.
Stimmen bilden
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